Fr. Apr 19th, 2024
Rolltreppe zwischen grünen Wiesen

Die Verkehrswende: Zu teuer? Nein!

Auch wenn in Essen noch im Stil des fossilen Zeitalters diskutiert wird, zeichnet sich die Verkehrswende doch auch hier ab. Selbstverständlich gibt es hier wie anderswo die Rückzugsgefechte derer, die an ihren gewohnten Routinen festhalten möchten. Dass sie mit dieser Haltung nicht gewinnen können, wissen sie. Deshalb reklamieren sie immer wieder unterschiedliche „Argumente“, mit denen sie nachweisen wollen, dass eine Verkehrswende nicht erstrebenswert sei.

Auf allgemeinpolitischer Ebene wird oft behauptet, die Verkehrswende koste Arbeitsplätze, sei zu teuer und würde von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Auf lokaler Ebene kommt als besondere Note des Arbeitsplatzarguments noch die Behauptung hinzu, die Innenstädte (mit ihren Zentren und Nebenzentren) würden ohne die PKW-Erreichbarkeit erst recht gegen den Online-Handel verlieren.

Alle drei bzw. vier Argumentationsstränge lassen sich mit etlichen gut dokumentierten Zahlen widerlegen. Das heißt aber, dass wir es gar nicht mit ernst gemeinten Argumenten zu tun haben, sondern mit vorgeschobenen, mit denen partikulare Interessen verfolgt werden. Darauf ist politisch zu reagieren.[1]

Die Verkehrswende kostet Arbeitsplätze?

Zum Argument des drohenden Verlusts von Arbeitsplätzen muss unterschieden werden nach der Art und der Branchenzugehörigkeit dieser Arbeitsplätze. Die ziemlich regelmäßig vorgebrachte Behauptung, in Deutschland hänge jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto ab, wird von vielen Institutionen zurückgewiesen. Eher ist davon auszugehen, dass maximal fünf Prozent (eher jedoch um 2,5%) der Arbeitsplätze in Deutschland vom Auto abhängen, also „nur“ einer von zwanzig (bzw. vierzig). Auf globaler Ebene werden noch sehr viel kleinere Anteile erreicht.

Angesichts der Tendenz von Internationalisierung und Automatisierung der Produktion ist auch bei einem Festhalten der Automobilität von einem weiteren Rückgang von Arbeitsplätzen der Branche in Deutschland auszugehen. Auch die sog. Elektromobilität, also die Elektrifizierung des PKW-Antriebs, dürfte zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen.

In etlichen anderen Branchen arbeiten heute mehr Menschen als in der Autoindustrie insgesamt. In vielen Branchen müsste es zu einem massiven quantitativen und qualitativen Ausbau der Beschäftigung kommen, um den gesellschaftlich notwendigen Aufgaben entsprechen zu können. In Kindergärten, Schulen und Hochschulen arbeiten schon heute fast doppelt zu viele Menschen wie in der Autoindustrie – und es müssten noch deutlich mehr sein: Die zuständige Gewerkschaft GEW fordert mit Blick auf das Niveau in den skandinavischen Ländern ein Plus von 50 Prozent.

Selbst in der von der Coronakrise massiv betroffenen Tourismusbranche arbeiten drei Mal mehr Menschen als in der Autoindustrie, wenn auch oft zu miserablen Bedingungen.

Während die Automobilbranche eher mit dem weiteren Verlust von Arbeitsplätzen zu rechnen hat, ist das Potenzial der Verkehrswende ein Wachstumsprogramm – in qualitativer und quantitativer Hinsicht: Egal, ob wir über die Schaffung der notwendigen Infrastruktur (Radwege, Bahnstrecken usw.) sprechen, über die Herstellung der „Fahrzeuge“ (Busse, Bahnen, Fahrräder usw.) oder über die Pflege dieser Einrichtungen – wir reden überall von einem erheblichen zusätzlichen Bedarf von Arbeitsplätzen, der fast schon dem Niveau in der Autobranche heute entspricht. Schon heute arbeiten nach Angaben des Umweltbundesamts mehr als 2,2 Millionen im Umweltbereich. Diese Zahl hat sich innerhalb von zwei Jahrzehnten verdoppelt und damit den Verlust der PKW-Arbeitsplätze mehr als kompensiert. Weitere Bedarfe führen zu weiteren Arbeitsplätzen, gesellschaftlich sinnvollen obendrein.

Die Verkehrswende ist zu teuer?

Die Antwort auf diese Frage, die oft als Tatsachenbehauptung daherkommt, ist eindeutig: Nein, sie ist es nicht. Vielmehr lassen sich mit der Abkehr vom PKW-Verkehr auf allen Ebenen erhebliche Mittel sparen – von den privaten über die kommunalen und die Landes- und Bundeshaushalte.

Vor allem die außerordentlich hohen sog. externen Kosten des Autoverkehrs werden von interessierter Seite immer wieder unterschlagen. In Zeiten von Corona wird ja schon mal auf die Zahl der Verkehrsopfer hingewiesen (gemeint sind damit die Opfer des PKW-Verkehrs), die um ein Vielfaches höher lägen als die zu beklagenden Corona-Opfer. Würde daraus nicht das perverse Argument gemacht, dass die Corona-Maßnahmen übertrieben seien, dem Argument müsste beigetreten werden. Tatsächlich leistet sich die Welt ein Verkehrssystem, das zu enorm hohen Opferzahlen führt, die übrigens in der statistischen Erfassung systematisch unterschätzt werden.

Kranken- und Rentenkassen werden in hohem Maße vom PKW-Verkehr belastet – auf Kosten aller einzahlenden Menschen unabhängig davon, ob sie einen PKW fahren oder besitzen. Die städtischen Haushalte tragen den Löwenanteil der Kosten des PKW-Verkehrs. Um bis zu 80% oder mehr der auf kommunaler Ebene entstehenden Kosten werden nicht vom „System PKW-Verkehr“, sondern über den allgemeinen Steuerhaushalt bezahlt – wiederum also von den Steuern zahlenden Menschen unabhängig davon, ob sie einen PKW fahren oder besitzen.

Hinzukommen die in der öffentlichen Debatte zentralen Kosten für Umweltzerstörung und Klimabelastung, die am Ende wieder von allen Menschen zu zahlen sind, auch denen, die heute noch gar nicht geboren sind und die also an dieser Verkehrspolitik nicht beteiligt sind.

Die Kosten der bestehenden Verkehre (PKW, LKW, Flugzeuge) lassen sich für sich und im Vergleich zu den Kosten alternativer Verkehre abbilden. Dies soll mit der folgenden Tabelle geschehen. Die Werte sind ausgesprochen konservativ gerechnet. Die Kosten der bestehenden Verkehre sind also eher zu niedrig, die Kosten der alternativen Verkehre eher zu hoch angesetzt (die Tabelle wurde entnommen: Carl Waßmuth, Winfried Wolf 2020: Verkehrswende. Ein Manifest. Köln, S. 187).

A123456B
Kosten & Subventionen bestehende VerkehrsorganisationenKosten der Verkehrswende- Programmpunkte
 Art der beste­henden und einzusparenden KostenEingesparte Kosten durch sukzessive Abkehr vom AutoKosten der VerkehrswendeArt der Verkehrswende­kosten 
p.a.10 Jahrep.a.10 Jahre
1aStraßenbau und -unterhalt (Bund+Länder)7,23615,0150Ausbau Schienen­netz 5.000 km / 30 Mio. Euro je km1b
2aStraßenbau und -unterhalt Kommunen8,6436,060Elektrifizierung 10.000 km / 6 Mio. Euro je km2b
3aGeschäftswagen­subventionen3,1151,010Programm zu Rettung und Ausbau der Bahnhöfe3b
4aDieselprivileg7,4373,030Strukturpolitik kurze Wege4b
5aMwSt.-Flugverkehr4,8241,515Radwegeausbau5b
6aKerosin-Steuerbefreiung7,1357,070Ausbau ÖPNV-Netze6b
7aFlughafen­subventionen1,0103,535Höhere Bezahlung der ÖPNV-Beschäf­tigten + mehr ÖPNV-Beschäftigte7b
8aE-Auto-Subven­tionen (inkl. Infrastruktur)1,01020,0200Finanzierung Öffi-Nulltarif8b
9aAktuell jährl. externe (Um­welt-) Kosten47,02351,010Nachtzugnetz9b
10aAktuell jährl. Unfallkosten34,31505,555Umweltkosten Schiene10b
11aExterne Kosten Flugverkehr5,7280,22Unfallkosten11b
12aGroßprojekte2,0200,55Öffentlichkeits­arbeit12b
13aSummen129,264364,2642Summen13b

Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich die Möglichkeit einer weitgehend kostenneutralen Verkehrswende. Allein durch konsequente Beendigung aller Begünstigungen im heutigen Verkehrssystem lässt sich die Verkehrswende bezahlen – mit vielen Vorteilen für die allermeisten Menschen, die Qualität des Lebens in den Städten, die Umwelt und das Klima. Das Festhalten am existierenden System führt im Gegenteil dazu zu weiter steigenden Kosten auf allen Ebenen, von denen nur wenige profitieren, die aber von vielen zu bezahlen sind.

Die Verkehrswende hat keine Mehrheiten?

Die Besorgnis über den Klimawandel ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Inzwischen ist eine bedeutende Mehrheit (2019: 61%) sehr besorgt. Diese Besorgnis übersetzt sich zunehmend in die Bereitschaft, gegebene Strukturen zu hinterfragen und zu ändern. Inzwischen ist z.B. selbst der ADAC nicht mehr gegen ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Das Umweltbundesamt hat erst kürzlich gezeigt, dass eine Begrenzung auf 120km/h zu erheblichen Emissionsreduzierungen führen würde (nämlich 2,6 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente oder 6,6% der CO2-Emissionen des Straßenverkehrs).

Auf lokaler Ebene finden sich regelmäßig Mehrheiten für Einschränkungen des Autoverkehrs, wenn Alternativen geboten werden und wenn das eigene Wohnumfeld und das Wohl von Menschen im Zentrum stehen. In Wien hat die Einführung des 365-Euro-Tickets in Verbindung mit einer restriktiven Autopolitik (z.B. weniger und teurere Parkplätze im Zentrum) zu einer Umkehrung der Verhältnisse geführt: Heute gibt es mehr Menschen mit einer „Öffi-Jahreskarte“ als Autos in Wien.

Bleibt noch ein Argument, das für uns besonders stark wiegt: Mit der geforderten Verkehrswende, also der Abkehr von der Autogesellschaft würden wir uns gegen die Menschen wenden, die heute mehr als andere auf das Auto angewiesen seien. Abgesehen davon, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen sozialer und ökonomischer Lage einerseits und der PKW-Verfügbarkeit andererseits gibt, der zeigt, dass schon heute ärmere Menschen seltener ein Auto haben oder fahren, dafür aber öfter an vom Autoverkehr besonders belasteten Orten leben, ist es ein essenzieller Teil unserer Forderung, dass die Mobilität gerade dieser Menschen über attraktive Angebote gewährleistet werden muss. Dies erreichen wir aber nicht über die Subventionierung des PKW-Verkehrs, von der ganz überwiegend die ohnehin privilegierten Teile unserer Gesellschaft profitieren. Dies erreichen wir über sehr gut und am besten kostenfrei zu nutzende öffentliche Verkehrsmittel, sehr gut ausgebaute Radwege und eine Strukturpolitik, die auf Nahversorgung, also auf kurze Wege setzt, statt Menschen zu zwingen, immer längere Strecken zurücklegen zu müssen, um ihren Alltag zu organisieren.

Eine Verkehrswende ist sozial gerecht, ökologisch gefordert und ökonomisch sinnvoll.


[1]Alle in diesem Beitrag verwendeten Zahlen und so manches Argument sind einem sehr empfehlenswerten Buch entnommen, das gerade erst erschienen ist: Carl Waßmuth, Winfried Wolf 2020: Verkehrswende. Ein Manifest. Köln (PapyRossa Verlag).

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